Der Chaotikum e.V. unterstützte Schüler darin interaktive Ausstellungsobjekte für das Buddenbrookhaus zu programmieren. Die Ausstellung wurde nun eröffnet.
Die Ausstellung „Fremde Heimat“
Was nimmst du mit, wenn du flüchten musst? Eine Frage, die sich die Familie Mann fragen musste, als sie aus Deutschland geflohen sind. Heinrich Mann wollte keine Aufmerksamkeit erregen, wollte nicht, dass jemand ahnte, dass er aus Deutschland flüchten würde. So packte er keinen Koffer, nur mit einem Regenschirm stieg er am 21. Februar 1933 in Berlin in die Bahn und nahm Abschied von seiner Heimat. Andere Flüchtende konnten mehr von ihrem Hab und Gut retten, als sie Deutschland verließen.
Was man auf die Flucht mitnehmen wird, ist auch eine Frage, die sich so viele Menschen wie nicht mehr seit dem zweiten Weltkrieg in den letzten Jahren fragen mussten.
Eine neue Ausstellung im Buddenbrookhaus erforscht fragen von Flucht und Heimat, am Beispiel der Familie Mann aber auch mit Bezug auf die heutige Situation. Dazu wurden im Rahmen des Konzepts „Literatur als Ereignis“ interaktive Exponate von Schülern der Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen konzipiert. Der Chaotikum e.V. hat Schüler dabei unterstützt ihre Ideen zu entwerfen und umzusetzen.
Was würdest Du auf die Flucht mitnehmen.
Die Installation „Koffer Packen“ fragt nun den Besucher des Buddenbrookhauses diese Frage: Was nimmst du mit, wenn du flüchten musst? Dem Besucher stehen 20 mehr oder weniger haushaltsübliche Gegenstände, vom Pullover bis zur Handfeuerwaffe, zur Verfügung, fünf davon darf er in seinen Fluchtkoffer packen. Der Clou: Das System erkennt, welche Objekte im Koffer landen und gibt dem Besucher eine Auswertung: Wie viele andere Menschen würden die selben fünf Objekte in ihren Koffer legen?
„Der Input der Jugendlichen war unschätzbar wertvoll,“ sagt Linus Lüssing, der für den Chaotikum e.V. das Projekt mitbetreut hat. „Während Maus und Tastatur gerade erst durch Touch-Displays wie in Handys und Tablets abgelöst werden, denken die Jugendlichen schon einen Schritt weiter und hinterfragen schon diese Technik. Aus dem Wunsch, einer technisch-interaktiven Komponente zur Informationsanreicherung von der Schülerin Gesa, sowie Yahlinas Wunsch einer haptischen, natürlichen Schnittstelle, die die Situation von Flüchtenden im wahrsten Sinne des Wortes greifbar machen sollte, entstand die spannende Idee, die Gegenstände selbst ‚intelligent‘ und dadurch die technische Schnittstelle unsichtbar zu machen.“
Zum Einsatz kamen Estimotes, welche per Blutooth ihre Position und Lage preisgeben. Jedes der 20 Objekte wurde mit einem Estimote ausgerüstet: so lässt sich erkennen, ob es im Koffer ist. Dabei wurde reichlich experimentiert und gebastelt. Wie schirmt man einen alten Koffer so ab, dass erkennbar ist, ob das Signal von innen oder von außen kommt? Dafür wurden extra Alu-Bleche unter dem Tisch angebracht, sonst konnte der Empfänger die Signale nicht differenzieren. Auch dann blieb es eine Herausforderung: Bis ganz zum Schluss wurde an der Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Erfassung gearbeitet. „Eine wenige Zentimeter genaue Positionsbestimmung per Funktechniken wie WLAN oder Bluetooth ist immer wieder eine Herausforderung. Kleine Änderungen in der Umgebung können schon unangenehme Reflexionen des Signals erzeugen. Was im Nobreakspace für Wochen noch einwandfrei funktionierte, wollte im Ausstellungsraum die Gegenstände zunächst nicht zuverlässig einordnen. Ein Median statt gleitendem Mittelwert und das Hinzufügen einer Hysterese waren am Ende die Lösung.“ so Linus. „Es hat zwar alles in allem einiges an Zeit gekostet, doch die Erkenntnisse und Erfahrungen, sowie überglücklichen Jugendlichen bei der feierlichen Eröffnung waren es wert.“ Unter dem Koffer empfängt der Sena Parani-UD100-G03 Bluetooth Adapter die Signale an welchen eine 12 dbi 2.4 GHz Antenne angeschraubt wurde.
Die Objekte, welche die Besucher in den Koffer legen können, orientieren sich eher an der Lebenswelt der Schüler als an jener der Manns, darunter auch ein moderner Reisepass mit RFID-Chip und ein Smartphone. Schon am Tag der Eröffnung wurde klar, das diese zu den Objekten gehören, die von den meisten Besuchern eingepackt werden. Hier hofft Linus, dass der historische Bezug der Ausstellung die Besucher zur kritischen Betrachtung bringt. Natürlich sei ein Smartphone sehr, sehr praktisch um als Geflüchteter Kontakt zu Freunden und Verwandten zu halten, oder auch schnell andere über akute Gefahren auf der Flucht zu informieren, um seine eigene Route zu planen. Doch man dürfe den Bezug der Ausstellung zum NS-Regime nicht vergessen: „Das Handy verrät permanent den Ort des Nutzers und mehr. Auch der Pass ist heutzutage schon elektronisch. Das wird mit dem IoT-Trend aber weiter gehen, jeder Gegenstand wird 'Smart' - wie es unser Kofferprojekt schon heute vorweg greift.“ Was wäre, wenn ein totalitäres Regime Zugriff auf diese 'smarten' Geräte hätte? Heinrich Mann hätte sicher gezögert sein Smartphone oder seinen Reisepass mit Chip in den Zug zu nehmen.
Das Frontend auf dem Tablet wurde in Elm geschrieben.
Damit die Besucher die Auswertung sehen können wurde ein Frontend mit Elm geschaffen, einer relativ frischen funktionalen Programmiersprache für's Web. „Die Grundstruktur für beide Projekte haben wir mit den Schülern zusammen gemacht, so hatten sie die Möglichkeit nicht nur ein Konzept auszuarbeiten, sondern es auch zu einem guten Teil selbst umzusetzen.“ sagt Björn Oelke, der das Projekt ebenfalls mitbetreute. „Elm war insbesondere interessant, da es die Stärken von einer React/Redux-Architektur mit denen einer stark typisierten, rein funktionalen Sprache vereint. Gerade mit der aktuellen Version sind viele Dinge sehr viel einfacher geworden, was beim Programmieren nochmal extra Spaß gemacht hat.“
Der Code zu steht auf Github zur Verfügung.
Damit der Server für den Koffer funktionieren wurde auf dem Linx 1010 Tablet statt des bereits installiertem Windows ein Debian installiert. Kein einfaches Unterfangen, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Blogeintrag.
Zudem können Besucher einen von den Schülern der Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen entworfenen alternativen Einbürgerungstest an einem weiteren Tablet ausführen. Die Fragen orientieren sich an der Lebenswelt der Schüler und mögen für manchen Besucher fremdartig wirken, so fremdartig vielleicht, wie für manchen Schutzsuchenden die Fragen der deutschen Behörden?
Der alternative Einbürgerungstest wurde, wie auch das Frontend der Kofferinstallation, auf einem Linx 1010 umgesetzt. Hier läuft eine JavaScript-Anwendung in einem Browser im Kiosk-Mode.
Der Code liegt auch auf Github.
Die Ausstellung Fremde Heimat: Bis zum 8. Januar 2017.
Die Ausstellung „Fremde Heimat“ ist im Buddenbrookhaus bis zum 8. Januar 2017 zu sehen. Zur technischen Umsetzung geben Linus und Björn demnächst einen Vortrag im Rahmen der Reihe „Freitalk N8“ im Nobreakspace.